Grindelwald, 16.07.2022
Kurz vor 4 Uhr morgens ertönt er, der Countdown an der Startlinie des Eiger Ultra Trails. Der Eigerplatz in Grindelwald ist gut gefüllt, viele Läufer haben die Stirnlampen eingeschaltet und auch sonst wäre es bei diesem wolkenlosen, milden Julimorgen eher Morgengrauen als dunkel. Sie liegen bereit, die 101 Kilometer und 6'700 Höhenmeter verteilt rund um die Höger Grindelwalds. Vor einigen Jahren, als ich vergeblich nach einem Startplatz für den Eiger Ultra Trail 51km suchte, faszinierten mich immer wieder diese Bilder der 101-Läufer mit der Stirnlampe frühmorgens beim Start. Natürlich habe ich für den heutigen Tag viel trainiert, und dennoch weniger als geplant. Im März, gerade als es wie geschmiert lief, war ich krank und fand den Tritt ins Laufen nicht so schnell wieder, dann vor genau einem Monat plagte mich eine Lebensmittelvergiftung, die eine Woche Secklä-Ferien zunichte mache und dann, ja dann war ich ein paar Mal einfach zu faul. Aber ich habe gut trainiert, oft mit Vorermüdung, langsam, weit - genau wie es heute geplant ist.
Wie geht man diese Distanz überhaupt an? Keine Ahnung. Ich habe niemanden gefragt und mache es auf meine Faust. Jedenfalls war die gesamte letzte Woche Kohlenhydrate futtern angesagt. Abwechselnd Kartoffeln, Teigwaren und Reis, mal mit Fisch, Poulet oder nature. Nur abends ein feines Glässi, ansonsten Linzertörtli wie am Lauf selbst. So kommt es, dass ich mich vorbereitet fühle. Gestern war ich noch kurz eine Runde Joggen in Grindelwald, da plagte mich der Darm etwas. Ansonsten kann ich seit einer Woche an nichts mehr anderes denken als an diesen 100er, sei es Zuhause, beim Arbeiten oder whatever. Eine kleine Kalkulation für meine Begleitung Manu, wann sie mich ungefähr wo erwarten könnte, wann und wie viel ich trinken und essen sollte und wie viele Kalorien es zu decken gilt, haben mich etwas ins Staunen gebracht. Und auch in Planungsschwierigkeiten. Keine Ahnung, wann ich so viel Energie zu mir nehmen soll. Aber alles zu seiner Zeit. Es fühlte sich gestern schon etwas speziell an bei der Abholung der Startnummer. Die Helfer, die Materialkontrolleure, alle geben einem das Gefühl, der 100er sei etwas Spezielles - und man schaffe diese Strecke schon, es sei eine Willenssache. So startet dann der Tag um 2 Uhr morgens mit müden Augen, einem letzten Check meines Plunders und Teigwaren. Draussen ist es schon mild, beim kurzen Einlaufen ist es angenehm. Da freut es mich ungemein, sind mein Schwesterherz Nadine und mein Schwager Ingo frühmorgendliche Überraschungsgäste. Haben sie doch die Nacht durchgemacht, um mich bei meinem Abenteuer zu begleiten. Grazie.
Nun geht es endlich los. Im vorderen Drittel, dafür auf der falschen Seite eingereiht, hören wir nochmals den Soundtrack des Eiger Ultra Trails. Gänsehaut habe ich keine, schliesslich hatte ich sie, als ich die 632 mal den Soundtrack zuhause hörte. Darauf haben alle gewartet. Sekunden später ertönt der Startschuss. Einige Frühaufsteher von Zuschauer feuern die Läufer auf den ersten Metern durchs Dorf an. Schnell wird es ruhig. Man hört nur noch die Schuhe auf dem Asphalt und ein paar wenige Plauderer. Der Sound eines Ultras halt. Wer sich nicht einwärmte, hat jetzt Zeit dafür. Noch ohne Notwendigkeit der Stirnlampe vergeht eine Weile, bis die Strasse in den Wanderweg beim Hotel Wetterhorn einmündet. Ich laufe super hyper mega locker und freue mich, dass eine weniger enge Startstrecke gewählt wurde. Trotzdem stauts beim Eingang in den Wanderweg. Dieser geht hoch bis zum Einstieg zur Glecksteinhütte. Stirnlampe ein, Nachtmodus an. Ab jetzt reiht sich Läufer an Läuferin. Ein schönes Läuferinnern-Füdle suche ich im Dunkeln vergebens. Ich sehe weit oben schon die ersten Stirnlampen beim Abzweiger zur Glecksteinhütte. Scheisse sind die schnell unterwegs. Ich meine zu glauben, bei den hintersten Läufern zu sein. Beim genannten Abzweiger folgt ein kurzes Abwärtsstück, eine gute Gelegenheit den Mond über dem Eiger zu bestaunen und die 100er Atmosphäre an diesem Prachtsmorgen aufzusaugen. Die erste Station ist die Grosse Scheidegg (Km 8). 1h29 bis dahin, Kategorienrang 96 und 224. overall. Hier steht der Verpflegungsposten bereit, ich bediene mich bei Wasser und Bananen, verpflege mich und zottle weiter zum Sonnenaufgang. Wow. Bis zur First geniesse ich den sanften Trail, alles locker.
Ich bin nicht der Erste auf der First (Km 14), aber auch nicht der Letzte. So erwarten mich meine drei Begleiter schon frühmorgens und helfen bei der Verpflegung. Sonnenaufgang. Die nehme ich mit in den Downhill nach Bort. In ewiger Furcht eines fatalen Misstrittes nehme ich es sehr gelassen, will mir schliesslich nicht schon die Beine kaputt laufen. Ein kurzes Alarmsignal in der Magen/Darmregion lässt mich in mich reinhören. Bis Bort (Km 17) wird der Tag immer heller, es wäre eigentlich schon genug warm. Beim Verpflegungsposten ziehe ich mein Ernährungsprogramm gemäss Plan durch. Ich liebäugle mit einem kurzen Abstecher auf die Toilette, verzichte aber des Andranges wegen und laufe weiter. Ab hier geht es wieder hinauf zur First (Km 22), bergauf hält sich mein Magen stillt, flach und besonders bergab spüre ich Verdächtiges. Jedenfalls plaudere ich noch mit einem Läufer und schaue, meinen Puls tief zu halten. Immer munter witerstäckne. Mit der First in Sicht, beim zweiten Durchgang ist der dortige Verpflegungsposten nun geöffnet, kündige ich meinen Begleitern eine Toilettenpause an. Schliesslich will ich nicht auf den Wanderweg scheissen. Oben angekommen fühle ich mich eigentlich gut, verzichte naiverweise auf Sonnencreme und montiere die Sonnenbrille für den weiteren Tagesverlauf. 3h34 bis dahin, Kategorienrang 79 und 184. overall. Die Toilettenpause nimmt 2-3 Minuten von der Uhr, was solls bei geplanten 20 Stunden ;-). So verabschiede ich mich für eine Weile, der nächste Treffpunkt, so der Trailrungott will, ist bei Kilometer 53 in Burglauenen geplant.
Vorbei am Bachalpsee rumpelt es in mir weiter. Keine Ahnung, was da los ist. Weder bin ich intensiv oder lange unterwegs, noch habe ich etwas Unbekanntes zu mir genommen. Im Gegenteil, ich habe nur das getrunken und gegessen, was in den letzten sieben Tagen auch erlaubt war. Ich verdränge es so gut es geht und freue mich auf den nächsten Abschnitt zum Posten Feld (Km 28) oberhalb der Bussalp. Ein schöner Trail, teilweise etwas technisch, folgt auf den Bachalpsee. Zuerst leicht steigend, dann hinunter zum Verpflegungsposten, der sich in einem Stall befinden. Hier nur nicht den Trinkbeutel fallen lassen, sonst muss ich ihn abschreiben. Auf der einen Stallseite sind noch Kühe einquartiert, auf der anderen Seite gibt es Speis und Trank. I like. Ich zottle weiter, bin zeitlich im Plan. Ab jetzt geht es bergauf in Richtung Faulhorn. Ich habe mir die Strecke nach Steigungen aufgeteilt, nicht nach Posten oder Kilometer. Jetzt geht es darum, unbeschadet den höchsten Punkt der Strecke zu erreichen. Im ersten Teil gelingt es mir gut, den Puls tief und das Tempo konstant zu halten. Marschieren versteht sich. Nix Joggen. Hier hat sich das Läuferfeld übrigens weit auseinander gezogen, meistens läuft man für sich alleine. Der Weg hinauf zieht sich jeweils und ich muss mich zunehmend mehr anstrengen, als mir lieb ist. Auf der zweiten Hälfte hinauf zum Faulhorn (Km 33) meine ich, Zeit und Ränge zu verlieren. Wohl bemerkt, die interessieren mich heute überhaupt nicht - es geht ums Finishen - aber so mitten im Lauf drin motiviert dieses Gefühl nun wenig. Die letzten Meter ersehene ich etwas herbei. Oben beim Verpflegungsposten treffe ich noch den Michu, den ich vor einigen Monaten am Niesen überholte, als er ihn am späten Nachmittag das dritte Mal hintereinander bestieg, während ich selbst nur einmal hochging. Er ist heute als Helfer da und ich bedanke mich für seinen Effort. Dann gibts wieder Speis und Trank. Allez. 5h53 bisher, Kategorienrang 73 und 176. overall.
Die Strecke zur Schynigen Platte rüber ist schön, besonders in der Gegenrichtung. Aber wie ich es immer sage, es geht zwar abwärts, aber in der Gegenrichtung ist es besseres Laufgelände. Etwas steinig und irgendwie nicht mein Trail halt, so dass das Tempo hier leidet, obwohl die Neigung gutes Läufergelände suggeriert. Auf den ersten Metern hinab meldet sich wieder mein Darm. Hoppla. Sogar Hoppla Schorsch. Ich fühle mich ziemlich unwohl, habe wie angeschossen Magenkrämpfe und muss anhalten und marschieren. Irgendetwas stimmt heute nicht. Das Gefühl kenne ich so nicht, weder vom Joggen noch sonst. Es erinnert mich an das eine Mal, als ich am Vorabend eines Niesegredi schüsselweise scharfes Curry reinwarf. Ich dachte damals, so dumm kann man nicht sein, aber wenn du dann in dieser Situation steckts gibts nur zwei würdevolle Lösungen: Boxenstopp oder dich beeilen. Zurück zum Eiger Ultra: Es versteht sich von selbst, dass ich fleissig überholt werde. Ich verschwinde dann mal kurz im Gebüsch, fühle mich anschliessend besser, nur kurz, aber immerhin. So geht es bis zur Männdlenhütte. Ab hier ist nun definitiv Läufergelände, ich jogge oder versuche es. Chancenlos. Mein Darm wütet im proportionalen Verhältnis zum Tempo. So zwingt mich dieser Mistkerl tatsächlich, fast alles zu marschieren. Beim nächsten Posten gibt es nur Wasser, etwas anderes bringe ich auch nicht mehr rein. Mir ist der Apetit schon lange vergangen und mit Blick auf meine heutigen Verpflegungsplan wird mir beinahe übel: Kaloriendefizit pur. Immerhin trinken geht. Unterdessen bratet die Sonne hier am Südhang gewaltig. Hitzesommer halt. Die Schlaufe zur Schynigen Platte (Km 41) wird dann zur Qual, schliesslich fehlt mir die Energie zunehmend und es gibt hier kein Gebüsch. Gleichzeitig kommen ständig Wanderer entgegen und die ersten Läufer der kürzeren Distanz überholen mich. Und langsam geht mir das Wasser aus, aber ich habe andere Sorgen. So trabe ich an der Schynigen Platte vorbei, hinunter über den Kiesweg. Hinter mir ist der Roger, der war gestern neben mir auf dem Camping. Bei der ersten Gelegenheit verschwinde ich in den Busch. Sowas ist mir noch nie passiert. Okay, einmal passierte es mir beim Lausanne Marathon. Nun, es wird mich hier niemand abholen, also gehe ich weiter. Mal joggend, mal zügig marschierend. Beim Posten Schwand hatte ich mir vorgenommen, fit zu sein. Gut genug kenne ich hier die leidenden Gesichter der Läufer der Vorjahre. Heute ist es ähnlich. Brutal heiss, die Sonne drückt. Einige sitzen, lassen sich mit Wasser bespritzen. Ich nehme die Gelegenheit, einige Orangen zu mir zu nehmen. Die sind der Hit. Dann wische ich mir den Schweiss von der Stirn und den Armen, das fühlt sich immer erfrischend an. Ansonsten gibt es hier nichts für mich und ich fühle mich auch nicht in der Lage zu essen. Also weiter. Zuerst bergab und dann in einem kurzen Gegenanstieg geht es in Richtung Rennhälfte. Ich muss hier noch anfügen, dass ich zum dritten Mal teilnehme. Bisher immer auf der 51km-Distanz, dem Sprint sozusagen, und jedes Mal war eine Gluthitze. Jedes einzelne Mal, aber heute toppt alles. Wir queren Wiesen, wo ghöjet wird, diese Bauernsöhne sind noch schlimmer dran als die Läufer. Und mit jedem Meter ins Tal hinunter wird es noch wärmer. Die Rebellion in mir geht weiter. Noch zweimal ins Gebüsch, dann erreiche ich entkräftet Burglauenen. Die Zuschauer ausserhalb des Postens reihen sich wie Hühner unter dem kleinen Dächlein, in der Hoffnung für ein wenig Schatten.
Hier ist Kilometer 53, ich brauchte 9h17 und liege auf Kategorienrang 84 bzw. 201 overall. Davon weiss ich aber nichts. Burglauenen bedeutet auch Rennhälfte. Das Eldorado der Verpflegungsposten mit Pasta, Toitois und einem extra hierhin transportierten persönlichen Sack, wo ich Kiloweise Linzertörtli verstaut hatte. Ich fühle mich nicht so gut. Da ändert wenig daran, dass sogar Mami und Tinu als weitere Überraschungsgäste hergekommen sind. Schön. Sie tragen mal wieder ein Fanclub-Shirt, so lieb. Ich erzähle kurz mein Leiden, weiss mir selbst nicht zu helfen. Die non-optionale, eingeplante und dringend benötige Pasta geht überhaupt nicht rein, mein Gaumen macht dicht. Ziemlich abrupt merke ich, es könnte schon alles vorbei sein. Schon? Nicht etwa, dass 53km wenig sind. Nein, weil ich sie mir locker vorgenommen hatte, schliesslich sollte ich hier noch fit sein. Jetzt fühle ich mich wie ausgepowert, obwohl ich doch nur zügig wanderte. Ich weiss, in dieser Verfassung den Anstieg nach Wengen gar nicht erst versuchen zu müssen: zu lang, zu weit, zu wenig Kraft. Alle wollen helfen, das ist lieb, aber auch etwas nervig. Schliesslich kommt mir in den Sinn, ich muss nur warten. Zeit heilt Wunden. Irgendwann kann ich bestimmt wieder essen - und ich habe heute alle Zeit der Welt. Meine Zielzeit ist wie erwähnt sowas von egal. Es ist dann ein Mix aus Vorschlägen meiner Liebsten und einer Fremden, die mir Orangen empfiehlt. Also mampfe ich wieder Orangenschnitze. Das klappt überraschenderweise. Irgendwann geht dann ein Banänchen rein, happenweise wie bei einem Baby, dann ein Dextroenergy und so beginne ich irgendwann die Pasta zu kauen. Fortschritte sind erkennbar. Währenddessen nehme ich wahr, dass viele Läufer den Posten passieren, gleichzeitig pausieren einige andere auch, sie sehen vereinzelt ziemlich kaputt aus. Auch im Schatten es es hier heiss. Ich will ja nicht übertreiben, aber als ich die Pasta kaute. liefen zwei Hobbits vorbei und warfen einen Ring ins Partyzelt... So kommst, dass immer mehr Futter reingeht, der Apetit zurück ist: nomau ä Portion Pasta u Orange, bitte. Ich bin wieder aufgepeppelt. Tinu meint dann, dass auch in Wengen Züge fahren würden. Heisst, wenn ich dort nicht mehr mag, kann ich auch dort aufhören. Stimmt, revitalisiert muss ich weitermachen. Ab jetzt gilt, eines nach dem andern zu nehmen. Mal schauen, wie sich die ersten Meter des Anstiegs anfühlen.
Ich verlasse Burglauenen nach einer Stunde Pause. 1h05 zeigt meine Uhr für diesen Kilometer an. Tja, eine Stunde Pause war das. Egal. Dann bin ich froh, den nächsten Streckenabschnitt zu kennen: Im Juni war ich hier mal trainieren. Es hilft eben schon, wenn man die Strecke kennt und dadurch besser einordnen kann, wie weit und steil es weitergeht. Ich marschiere gut, im Schatten gehts auch mit der Temperatur. Zwei Läufer lasse ich stehen, fühle mich okay. Nicht spritzig aber marschierend ist das kein Vergleich mehr wie vor Burglauenen. Das motiviert. Mein Puls ist ziemlich tief, so im 120er Bereich, jetzt kann ich auch wieder tiefer einatmen. Dafür sind fast keine Läufer mehr um mich herum. Die lange Pause hat mich wohl weit zurückgeworfen. Hinauf zur Spätenalp kommt eine Läuferin entgegen, die aufgibt. Ich spule die Meter einfach ab, konstant und zielstrebig. Unterdessen hole ich drei Läufer ein, wir erreichen gemeinsam die Alp. Dort ist zwar kein Posten, aber ein erfrischender Brunnen und ein paar Leute, die Bier saufen und witzeln. Alpenparty eben. Ab hier geht nur noch flach und leicht bergab nach Wengen. Ich hatte mich ja auf Mindgames eingestellt, dass irgendwann die Frage kommt, warum ich mir das antue, das Bewusstsein des Leidens, dem Ersehnen des Ziels. Hier bei Kilometer 60 merke ich nichts davon. Natürlich, vor Burglauenen litt ich, mehr körperlich, aber nicht muskulär und auch nicht psychisch. Mit Sicht zur Jungfrau schreibt mir noch der Räphu ein Whatsapp, es sei schon etwas heiss zum Laufen heute. Ich mache unmittelbar nach dem zufälligen lesen der Nachricht ein Foto, schicke es ihm aber später. Hatte mir schliesslich vorgenommen, mich auf den Lauf zu konzentrieren. Das tue ich.
Bis Wengen dauerts noch, Dorfbesucher und Wanderer applaudieren spontan beim Vorbeigehen, sie wissen um die 100 Kilometer. Völlig überraschend erwarten mich kurze Zeit später in Wengen (Km 61) Manu, Susann, Peter und Beat beim Verpflegungsposten. So härzig. Wie ein Fanclub begrüssen sie mich und feuern mich an. Unbestritten habe ich mehr Support als die Einheimischen oder der spätere Sieger. Wir plaudern ein wenig, ich verpflege mich und bedanke mich für die Unterstützung. Beat meint, jetzt schaffe ich es ins Ziel, schliesslich seien ja über 60km geschafft. Gleichzeitig stellt er humorlos fest, dass ich weit hinter meinem Zeitplan bin. Ich schmunzle. Und Peter meint, dass die anderen Läufer beim Eintreffen in Wengen eben gerade nicht auf den Männlechen hinaufblickten. Ich bin aber nicht die anderen und schaue mir kurz dem Gemsweg an, es sind nämlich die nächsten 1'000 Höhenmeter, es ist sozusagen das Filletstück des Eiger Ultras. Auch Susann spricht mir gut zu - witermache, meint sie. Das mache ich. Sie alle sind extra hergekommen, um mich für ein paar Minuten zu unterstützen. Und ich bemerke, sie wären auch hier hin gereist, wenn ich in Burglauenen aufgegeben hätte. Das motiviert. Nochmals Orangen, Wasser und Bananen, dann gehts weiter. Nach 12h01 verlasse ich Wengen auf dem Kategorienrang 97, gesamt 225.
Den Gemsweg kenne ich natürlich. Für heute stelle ich ihn mir brutal vor. Es ist 16 Uhr nachmittags, die Sonne drückt. 60+ Kilometer sind in den Beinen, rund 4'000 Höhenmeter auch und der Weg ist steil. Also freue ich mich über Schatten, so lange ihn der Wald hergibt. Es zieht sich immer hinauf, bei meinem heutigen Tempo besonders. Ich überhole zwei Leidende, aber wir sind ja alle im selben Boot. Aus dem Wald hinaus entdecke ich dunkle Wolken drüben beim Schilthorn. Eine Gewitter ist nicht angekündigt, Regen eigentlich auch nicht, aber es sieh dort so aus. Es ist aber wie es ist, die Sonne verschwindet nie hinter dieser einen Wolke. Wie ich es erwartet hatte, es ist brutal. Einfach brutal. B. R. U. T. A. L. Neue Sphären für meinen Körper. Ein kleiner Posten schenkt Wasser aus, die Helfer unterhalten sich, hören Musik, ein paar Läufer pausieren. Ich verzichte, pausieren hilft in der Regel nicht. Durch die Lawinenverbauungen gehen sonst die Höhenmeter schnell vorbei, weil steil, aber heute nicht. Immer wieder schaue ich auf die Uhr, wo die Kilometerangabe fast stehen bleibt. Irgendwann nähert sich die Bergstation Männlichen. Immerhin hat sich mein positives Gefühl gehalten, aufhören bzw. aufgeben ist kein Thema.
Männlichen, Km66, 13h49, Rang 98 bzw. 227.Oben erwarten mich wieder Manu und Peter. Endlich mal Wasser mit Kohlensäure. Die andere Katzenpisse verleidet langsam. Ich verweile einen Moment, die Nahrung ist immer die selbe: Orangen und Bananen, wenn es hat, plus Wasser. Bouillon und Linzertörtli sind für heute gestorben. Mit einem anderen Läufer plaudere ich kurz (er wir noch lange hier pausieren und viel Zeit verlieren, aber wird es schaffen). Ich nehme meine Behauptung zurück, was ich Pädu immer predigte: der Männlichen ist nicht flach. Heute jedenfalls nicht. Jetzt windet es, ich ziehe ein Langes über und zottle in Richtung Lauberhorn. Dabei realisiere ich, den happigen Teil geschafft zu haben. Zeit zum Nachdenken.
Das Lauberhorn ist nicht gleich um die Ecke, sondern wird via Panoramatrail und Kleine Scheidegg angesteuert. Hier geht es abwärts und flach, bevor die schwarze Piste gequert wird bis hinauf zur Starterbar. Mein Magen hält sich still, auch bergab. Auf das anfängliche Bouillon und Linzer verzichte ich schon lange, die Gels bleiben unberührt im Rucksack. Während im gemütlichen Trab die Wolken aufziehen, kalkuliere ich ein wenig und realisiere Folgendes: Selbst wenn ich ab hier alles marschiere, flach wie bergab, sollte es mir vom Zeitlimit reichen. Das motiviert mich. Ein Misstritt ist schnell passiert, ansonsten sind meine Gelenke frei von Beschwerden und wenn mein Magen bei gleich bleibender Belastung sowie Ernährung ruhig bleibt, bin ich zuversichtlich ins Ziel zu kommen. Sehr zuversichtlich. Mit diesen Gedanken passiere ich die Starterbar auf dem Lauberhorn, brunze mal auf die Piste (sorry), bevor es zum Hundschopf runter geht. Anschliessend geht es über den Kiesweg zur Kleinen Scheidegg, auch die sollte ich noch schaffen. Unterdessen betrete ich Neuland, was die Distanz und Dauer angeht. Immer wieder bin ich fasziniert, was meine Uhr anzeigt: 65 Kilometer, 70 Kilometer und so weiter. Im Verpflegungsposten in der Station der Wengernalpbahn (Km 77) sind auch Sanitäter, die ein paar Läufer behandeln. Der Lauf ist einsam geworden, kein Vergleich zum Anfangstross. Manchmal ist der nächste Gleichgesinnte einen halben Kilometer entfernt. Ich verzichte auch hier, abzusitzen, und gehe bald weiter. Hinunter zur Moräne kenne ich den Weg nicht, neugierig, wie weit es bergab geht, jogge ich wieder. Ein Gang ins Gebüsch bleibt mir auch auf diesem Abschnitt nicht erspart. Halb so wild. Langsam beginnt die Abendstimmung. Eingangs Blackrock, eine meiner Lieblingspisten, kochen sich Streckenposten etwas zurecht. Bis Mitternacht werden sie dort verweilen. Anschliessend geht es hinauf auf die Moräne. Das Gelände ist mir vom winterlichen Eisrutschen alias Skifahren bekannt, im September verläuft hier der Jungfrau Marathon. Recht steil gehts zum Eigergletscher (Km 81) hinauf, begleitet vom Sonnenuntergang und toller Abendstimmung. Oben beim Checkpoint wird mir bewusst, die vorletzte Steigung geschafft zu haben. Eigergletscher: 17h04, Rang Rang 93. bzw. 222.
Hinunter in den Eiger Trail geht mir die Kraft langsam aus. Es ist nicht kritisch, aber so dass Joggen etwas schwer fällt, selbst bergab. Oder es ist eben mein Kreislauf, der Puls war ja eh schon tief und entsprechend auch mein Tempo. Und ja, den kurzen Gegenanstieg nach der Bergstation hatte ich natürlich vergessen in meiner geistigen Streckenplanung. Was ich direkt neben dem Wanderweg noch entdecke ist, dass andere Läufer offenbar auch Verdauungsprobleme hatten. Immerhin nutzte ich jeweils ein Gebüsch ;-). Genug dazu für heute. Irgendetwas zwischen Joggen und Marschieren ist es, vielleicht heisst es Zotteln. Nicht langsam, aber auch nicht schnell. Die ersten Läufer schalten die Stirnlampe wieder ein, ich verzichte noch. Ein schöner Trail ist es allemal, im Sommer häufig überlaufen. Heute nicht, so spät jedenfalls nicht. Die Wolken verziehen sich langsam, es kühlt ab. Die Kilometer gehen vorbei, das Grau am Himmel weicht dem Schwarz. Stirnlampe an. Plötzlich bilden sich wieder kleine Grüppchen von Läufern, die ähnlich schnell sind. Bis nach Alpiglen ist der Weg mal technischer, mal weniger. Ob Geniessen das richtige Wort ist, weiss ich nicht, aber es fühlt sich gut an. Spass ist da, Motivation ist da, die Beine sind noch da. Keine Beschwerden. Beim Posten in Alpiglen (Km 86) warten wiederum Manu und Peter, dieses Mal nur kurz, weil ich so lange brauchte, dass sie auf die letzte Bahn eilen müssen. Also verpflege ich mich ab der Stange und scherze wie immer: «Bin ich der Letzte?», frage ich. Da entgegnet mir ein Helfer mit einem Lacher und einem klaren Nein. Ich sei aber auch nicht der Erste. Schliesslich schaue ich hoch und sehe etliche Stirnlampen erst noch kommen. Das motiviert zusätzlich.
Das Stirnlampenfeelig gefällt mir gut. Mal gehts über die Strasse, mal durch den Wald, mal weisen Helfer den Weg bei Abzweigungen. Fast unten im Tal angekommen zweigt der Weg ab, es geht wieder bergauf. Noch erwartet mich eine letzte Steigung, diejenige zur Pfingstegg. Ab hier ist jeder Meter eine Überraschung. Über Wurzeln, Steine, insgesamt über einen angenehmen Trail geht es immer weiter. Übrigens hat meine Uhr immer noch 30 % Akku, eine Sorge weniger. Selten blitzt ein Licht im Wald auf, es sind die Stirnlampen anderen, die einem das Gefühl geben, nicht absolut allein zu sein. Von Weitem lassen sich vereinzelt Lichter auf der Pfingstegg erkennen, bis dahin ist für mich noch etwas zu tun. Über die tosende Brücke der Gletscherschlucht erreiche ich bald den Posten am Marmorbruch (Km 92). Wieder Manu und Peter erwarten mich gut gelaunt und unterstützend wie eh und je. 19h19, Rang 89. bzw. 211.
Noch 265 Höhenmeter seien es. Einmal auf den Gurten, denke ich mir. So sage ich «tschüss, auf Wiedersehen im Ziel», und stäckne weiter. Bis dahin habe ich die Stöcke übrigens immer gebraucht, sie haben sich definitiv bewährt. Jetzt vergeht der Lauf wie im Film, die Höhenmeter gehen schneller vorbei als auch schon. Ich finde Gefallen an diesem Nachtspaziergang. Kurz vor der Pfingstegg motiviere ich zwei Läufer zum Weitermachen. Sie glauben mir nicht, dass es nur noch 100 Höhenmeter sind. Aber ich verspreche es ihnen und gehe zielstrebig weiter. Tragen kann ich sie nicht. So signalisiert zuerst ein Wanderweg noch 10 Minuten, dann sind es zwei Streckenposten, die applaudieren und schliesslich sehe ich aus der Distanz den letzten Verpflegungsposten. Welcome to Pfingstegg (Km 94). Mit einer sympathischen Euphorie heissen mich die dortigen Helfer willkommen, bieten mir im beleuchteten Zelt eine letzte Verpflegung an. Ich winke ab mit der Begründung, sie jetzt nicht mehr nötig zu haben. Ich hatte mir geschworen, nur einmal auf die Pfingstegg zu gehen. Nämlich am 101km-Lauf. Jetzt ist es soweit.
Ab hier gehts bergab, ich jogge komfortabel und schaue hinab auf das beleuchtete Dorf. Es läuft noch Musik im Zielbereich und ich sauge jeden Moment auf. Gleichzeitig ist meine Furcht eines Misstrittes präsent, voller Aufmerksamkeit nehme ich die letzten Kilometer in Angriff. Just bei Kilometer 97 drückt irgendetwas in der linken Kniekehle, nicht schlimm, aber es verbleibt. Egal. Bald erreiche ich die Abzweiger, ernte nochmals Applaus und Quere das Camping. Kurz darauf steht das Schild «100 KM» unspektakulär am Strassenrand. Wow. Noch ein paar Meter hinauf zur Hauptstrasse sind es. Ich freue mich schon. Es laufen noch Menschen durchs Dorf, die alle applaudieren für den einsamen Päscu, der kurz nach Mitternacht verschwitzt durch das Dort zottelt. Und auch im Zielbereich feuern nochmals einige Personen an - das fägt. Noch nie verspürte ich von Helfern solche Unterstützung, Zustimmung und teilweise auch Bewunderung wie hier am Eiger Ultra Trail E101. Unspektakulär, ohne epische Musik und ich glaube der Abfallwagen surrt gerade neben an, erreiche ich das Ziel. Eine liebevolle Begrüssung von Manu und Peter kommt mir entgegen. Ziel erreicht, einmal rund um Grindelwald. Eiger Ultra Trail E101 geschafft. Projekt abgeschlossen. Ein paar Zielfotos sollen es sein bei meinem grössten Vorhaben bisher.
Wer nicht im Ziel ist, sind die schlagartigen Emotionen, die ich erwartet hatte. Dafür stellt sich ein wohliges Zufriedensein ein. Wirklich sehr gerne nehme ich das Finishershirt entgegen. Ich witzelte immer über die Typen, die mit dem E101-Finishershirt joggen gehen. Angeber. Jetzt habe ich selber eines. Dafür muss ich zuerst den GPS-Sender zurückgeben. Aus meinem nassfeuchten Rucksack zupfe ich das Ding ab, dafür beneide ich die Helfer nicht, die ihn entgegen nehmen müssen. Der liebe Peter ist extra bis zum Schluss geblieben, danke vielmals. Bereits letztes Jahr hätte ich am Start des E101 stehen sollen, er wurde aber abgesagt. Bei jedem meiner vielen Skitage in Grindelwald grüsste ich beim Vorbeifahren in Burglauenen den Verpflegungsposten, so häufig ging ich joggen wegen dieses Laufes. Jetzt ist er passé - Jiipiijeey.
Langes Fazit: ein besonderes Gefühl. Ein besonderer Lauf. Meine Beine fühlen sich im Ziel noch immer gut an, die waren gut vorbereitet. Wie erwartet wurde es ein sehr langsamer Lauf. Die unterschiedliche Stimmung war eindrücklich, frühmorgens, ja noch nachts, im Morgengrauen, Vormittags, in der Hitze, am lauen Abend und wieder in die Nacht hinein. Eine tolle Strecke ist es allemal, ich glaube die Grindelwalder Trails sind für dieses Jahr abgehakt. Auch im Nachhinein habe ich keine treffende Erklärung für meine Verdauungsbeschwerden. Die Nahrung vor dem Lauf war immer die selbe, diejenige während wie x-fach getestet, zum letztem Mal vor zwei Wochen am Gornergrat-Zermatt-Marathon. Die Nahrungsmenge orientierte sich nicht nur nach einem Plan, sondern auch am aktuellen Gefühl. Vielleicht war es ein Mix, der mir nicht bekam. Oder die Lebensmittelvergiftung wirkte noch nach. Oder vielleicht auch die Tatsache, um 2 Uhr morgens solches Zeug reinzumurxen. Who knows. Sonderbar ist, dass es sich während des Laufs stabilisierte. Unterdessen habe ich von etlichen Läufern gehört, die ähnliche Beschwerden hatten. Meist ordne ich es der Hitze und Sonne zu - ich selbst Lief ohne Hut. Gleichzeitig waren es verdächtig viele, die schon früh Beschwerden hatten. Wie eben bei der Toilette Bort ganz am Anfang. Jedenfalls war der Einbruch in Richtung Faulhorn dem geschuldet, dass mein Magen die aufgenommene Nahrung gar nicht verarbeiten konnte. So erklärt sich auch das Energieloch bis nach Burglauenen. An Läufen bis 50km, nehme ich wesentlich weniger Nahrung zu mir, so dass es gerade bis ins Ziel reicht. So fühlte es sich heute auch an trotz stetiger Nahrungsaufnahme und wesentlich tieferem Tempo. In Burglauenen war ich kurz vor der Aufgabe. Ziemlich abrupt stellte ich fest, wie ich mich reingesteigert hatte und plötzlich dort sass und über da Aufgeben nachdenken musste. Alles vorbei in der Hälfte? Fast wäre es soweit gekommen. Wäre ich irgendwo anders auf der Strecke in dieser Verfassung gewesen, z. B. noch früher oder bei einem kleineren Posten oder ohne Helfer, hätte ich jetzt definitiv kein Finnishershirt. Und keine solch tolle Erfahrung. Eins nach dem anderen, sagte ich mir ab Burglauenen. So war es zuerst ein kleiner Organgenschnitz, dann ein zweiter, dann Pasta, dann ein gutes Gefühl, dann Wengen, dann Eigergletscher und irgendwann 101km. Vieles hatte ich trainiert und ausprobiert, nicht aber die wirklich tolle Unterstützung meiner Liebsten. Merci viu Mau. Merci für eure Zeit, euren Schweiss in Burglauenen, die Geduld, die Verpflegung, den Zuspruch, die guten Wort, den Glauben, die Verpflegung, die Mühe und Aufwand und besonders, danke für die gelungene Überraschung. Ich hatte die letzten 47 Kilometer ein gutes Gefühl, war mir während den letzten 40 Kilometern absolut sicher zu finishen. Auch wegen euch. Ich hatte also 47km Zeit, mich zu freuen.
Übrigens war ich nicht Letzter, trotz meiner lagen Pause, den Abstechern ins Gebüsch und der verminderten Leistungsfähigkeit. Hier noch ein paar Zahlen:
Kategorienrang: 88
Kategorienrang: 88
Gesamtrang: 209 von 638 Gestarteten
Distanz: 100,54 Kilometer
Höhenmeter: 6'700 (offizielle Angabe)
Benötigte Zeit: 20:33:07
Kalorienbedarf: 8'387
schnellster Kilometer: 4min55
langsamster Kilometer: 1h05
Durchschnittlicher Puls: 115
Schweissverlust: 12 Liter
Schritte: 123'334 plus ein paar nach Mitternacht
Höhenmeter: 6'700 (offizielle Angabe)
Benötigte Zeit: 20:33:07
Kalorienbedarf: 8'387
schnellster Kilometer: 4min55
langsamster Kilometer: 1h05
Durchschnittlicher Puls: 115
Schweissverlust: 12 Liter
Schritte: 123'334 plus ein paar nach Mitternacht