Hard. Harder. Hardergrat.

29.09.2019
Ich gebe es zu, den Titel dieses Berichts hatte ich vor dem eigentlichen Run definiert. Ob er nun zutreffend sein wird oder nicht, werde ich sehen. Wohl für keinen anderen Run habe ich so viel Zeit investiert für die Recherche. Heute vor zwei Wochen nahm ich mir ihn ein erstes Mal vor, diesen Grat auf der Nordseite des Brienzersees. Es kam anders. Gleiches die Woche darauf. Nun soll es heute endlich soweit sein. Ehrlich gesagt fürchte ich mich etwas vor dem Tannhorn, dazu gibt es viele Berichte, teilweise sehr unterschiedlich eingeschätzt. Heute ist es an der Zeit...

Tannhorn mit Heiligenschein



Da ich den ganzen Grat beschreiten will, tu' ich das von Ost nach West. Dadurch begehe ich die Schlüsselstellen im vermutlich leichteren Aufstieg und reduziere die Anzahl Höhenmeter. Mit Verspätung starte ich auf dem Brünig auf 1'005m.ü.M. Analog gestern ist ein Prachtstag angekündigt, sozusagen wolkenlos. Bereits nach kurzer Distanz erwartet mich die erste richtige Steigung, wenn auch landschaftlich weniger. Da mich ein ziemlich langer Run erwartet, starte ich gemütlich, früh zu Marschieren ist also keine Schande. Dank ein paar Kühen entdecke ich den Blick auf den gesamten Grat sowie den Brienzersee. Bis hinauf zum Tüfengrat bin ich gedanklich abgelenkt. Für einige Meter folge ich diesem sanften und angenehmen Trail über Gras. Ich erfreue mich den fast sommerlichen Temperaturen. Einzig bin ich erstaunt, wie langsam ich mich dem ersten Zwischenziel nähere, dem Brienzer Rothorn. Vom Brünig bis dorthin sind gemäss meinem Erinnerungsvermögen 5h signalisiert. Eine erste Pause habe ich für die Höch Gumme (2'205m.ü.M.) geplant. Über einen fast flachen, flowigen Trail mit bester Seesicht reizt es mich, etwas Gas zu geben. Ich widerstehe. Dann verpasse ich Glatt den Aufstieg zur Höch Gumme, weswegen ich am Gipfel vorbeizottle, um dann von der Westseite zurückgehen zu müssen. Oben gönne ich mir etwas Verpflegung, ziehe des Windes wegen ein Langes über und schicke ein paar wolkenfreie Fotos in die Cloud.
erster idyllischer Seeblick

schöner Trail

es liegt noch viel Brienzergrat vor mir :-)
Bis zum Brienzer Rothorn bekomme ich einen ersten Vorgeschmack auf den Grat. An zwei-drei Stellen nähert man sich dem Abgrund, wobei das Terrain hier einfach ist. Gegen 200 entgegen kommenden Wanderern begegnen mir bis zum Rothorn, gits ja garnid. Der unschöne Tourisweg endet dann beim Rothorn, auf dem ich zuerst den höchsten Punkt überschreite, um dann meine Wasservorräte sowie meinen Magen aufzufüllen. Kurze Pause nach 2h28. Der Wind bläst mit ca. 50km/h, weswegen die Restaurantterrasse ziemlich ungenutzt bleibt. Wassertank voll, es kann weitergehen. Go West scheint bei den Touris nur eine Erinnerung an einen Song zu sein, denn westlich des Bergrestaurants bin ich plötzlich alleine unterwegs. Fast alleine. Ein erstes Bild vom eigentlichen Grat erhöht die Vorfreude. Vorbei am Schöngütsch (Gipfel ausgelassen), erreiche ich das Lättgässli. Auf der Nordseite des Grats weht ebenfalls Wind, die Sonne kommt hier nicht hin, es wird frisch. Die Betontreppe ist schnell begangen, ein paar Entgegenkommenden weiche ich aus und entdecke deswegen einige Steinböcke. Sie sind zu weit entfernt für ein gutes Foto mit dem Smartphone. Den Chruterepass passiere ich bald darauf. Wo das Weglein schmaler wird oder sich dem Abgrund nähert, marschiere ich natürlich. Ein Entgegenkommender erzählt davon, unweit von hier umgedreht zu haben, noch vor dem Tannhorn. Gelegentliche Fotostopps und zügiges Marschieren prägen ab hier meinen Run. Ebenso eindrücklich wie die Nordwände zeigt sich längst das Tannhorn. Ich hatte es verdrängt, ja ignoriert, obwohl sein markanter Aufschwung so ziemlich jeden Gratschnappschuss prägt. Bis hierhin hielt sich der Schwierigkeitsgrad in Grenzen, man könnte also gefahrlos auf Tempo rennen.
Lättgässli von unten

erster Eindrücke vom Grat

typsicher Wegverlauf

hier wirkt der Gratverlauf wilder als er in Wahrheit ist

scho gli bim Tannhorn

Dann stehe ich beim Tannhorn. Bevor ich den gemäss Hikr T4-T5 klassifizierten Abschnitt in Angriff nehme, verpflege ich mich und pausiere. Der erste Aufschwung wird links umgangen, das Sicherungsseil hängt lose hinunter. Alles kein Problem, südseitig hält sich der Abgrund in Grenzen. Beim nächsten Abschnitt hilft das Seil, welches mir einen vertrauenswürdigen Eindruck macht. Es ginge auch ohne, erst die letzten Meter, wo das Weglein deutlich schmaler und steiler wird, der Abgrund näher kommt und das Festhalten schwierig wird, bin ich froh um das Seil. Beim ersten Gang über den Grat führe ich ein Selbstgespräch, nein ich plaudere mit dem Tannhorn. Meine Botschaft: möge es mir bitte friedlich gesinnt sein.
Schlüsselstelle Tannhorn, der Aufschwung wird links umgangen

erster Gratabschnitt

Blick zurück
Die Gratüberschreitung macht mir wenig aus, rechts wartet der Tod, links möchte ich auch nicht runterfallen, dazwischen liegt ein schmaler, aber dennoch genügend breiter, gut ausgetretener Grat. An dessen Ende kreuze ich eine Gruppe junger Burschen. Mit Hilfe der Hände ist auch der nächste Abschnitt geschafft. Irgendwie erinnere ich mich im Nachhinein an eine schmalere Gratpassage, nur ca. 2-3m lang, dafür etwas unangenehm, weil ein hoher Tritt zuvor den Abgrund ziemlich auf dem Silbertablett präsentiert. Henusode. Es geht alles viel besser als erwartet, so nehme ich die letzten Meter zum Gipfel in Angriff. Das wars. Tannhorn geschafft. Erleichtert bin ich und überrascht. Das Tannhorn war mir wahrlich friedlich gesinnt. Oben gönne ich mir eine Rast, Proviant, Fotos und einen Schwatz mit einem älteren Herren, der mich schon vor dem Allgäuwhoren warnt. 3h34 Laufzeit und gegen 19km sind passé.

schmali Aglägeheit

letzte Meter zum Tannhorn
Der Abstieg zeigt sich dank der durchgängigen Wegspur als einfach, anders wäre das hier weglos übers Gras. Zwei Kreuze mahnen zur Vorsicht. Während ich abwechselnd marschiere und jogge, werfe ich gelegentliche Blicke zurück, denn auch von dieser Seite wirkt das Tannhorn ebenso mächtig wie eindrücklich.
tolles Panorama auf dem Tannhorn

ungefähr Halbzeit auf dem Tannhorn

weiterer Wegverlauf nach dem Abstieg

typischer Wegverlauf
Mein Tempo lässt ziemlich nach. Ich bin bereits im Sparmodus was Flüssigkeit angeht. Weht der Wind mal weniger, steigt die gefühlte Temperatur ziemlich an, entsprechend schweisstreibend ist die Sache. Ein wunderbarer Gratverlauf, steile Graswände und bestes Wetter lassen mich bereits jetzt das Zwischenfazit ziehen: einer meiner bestens Runs ever. Eine Kraxelpassage aufs Allgäuwhoren bringt etwas Abwechslung, aber auch hier nehme ich den Schwierigkeitsgrad wesentlich leichter wahr als teilweise beschrieben.
Blick zurück zum Tannhorn

immer wieder Aufschwünge im Weg: Allgäuwhoren
Ein steiler Abstieg zur Allgäulücke bringt mich wieder näher an die Zivilisation, hier pausieren mehrere Wandermenschen. Unterdessen habe ich den Überblick über all die Hoger verloren, denn es folgt Aufschwung und Aufschwung, das Auf und Ab will keine Ende nehmen. Durstig und etwas hungrig nehme ich das Gummhorn in Angriff. Hier treffe ich noch auf einen alten Bekannten, Dänu Kammer. Er beabsichtigt die Gratbeschreitung in der Gegenrichtung zum Rothorn, wovon ich aufgrund des zeitlichen Fortschritts abrate. Das Gummhorn gefällt mir richtig gut, etwas unscheinbar im Vergleich zu anderen Erhebungen. Pausieren und Geniessen ist angesagt. Meinen Trinkbeutel leere ich nun vollständig. Jawohl, vollständig. Bis zum Harder ist es nicht mehr weit, meine ich ;-)
what a view

Rückblick zur Allgäuwlücke

kurz vor dem Allgäuwhoren

immer wieder ein Hoger im Weg...

Gummhorn
Über den Blasenhubel liesse es sich schneller rennen, wenn man denn noch Energie hat. Da ich am austrocknen bin, eignet sich ein nackter Energygel wenig, und Festnahrung eignet sich während dem Laufen noch weniger. Also jogge ich gemütlich hungrig zum vermeintlich letzten Aufschwung vom Wytlouiwhoren zum Augstmatthorn. Hier geht mir die Puste aus, obwohl ich eher gemütlich unterwegs bin. Einen Zwischenstopp später merke ich, dass die vielen Pausen eher ungünstig auf meinen Wasserbedarf wirken. Aber das kann ich jetzt nicht ändern. Auf dem Augstmatthorn suche ich vergeblich Steinböcke, erinnere mich aber daran, dass ich ja noch welche zu Gesicht bekam nach dem Tannhorn, wenn auch nur aus weiter Ferne. Der kurze Aufstieg zur Suggiture betrachte ich als die letzten Höhenmeter für heute. Ich bin froh, nun alle Aufstiege hinter mich gebracht zu haben. Der Durst plagt mich nun zunehmend, da ändert auch der einsame Steinbock in Richtung Lombachalp wenig.
zurück auf dem Wanderweg

Aufstieg zum Augstmatthorn

Aussicht vom Augstmatthorn


Ich weiss um die ziemlich sportlich signalisierte Wegzeit zum Harder. Je mehr ich mich beeile, desto schneller kann ich meinen Durst löschen. Selbstmotivation. Das ist aber einfacher gesagt als getan, denn mit zunehmendem Durst ständig dem scheinbar erlösenden See entlang zu jufle hat eine gewisse Ironie. Ich gehe förmlich ein, das Tempo reduziert sich mehr als erwartet. Und völlig vergessen hatte ich die kurzen Gegenanstiege, meist nur einige Dutzend Meter hoch, sie nerven dennoch. Bis zum Harder zieht sich mein Run enorm, da ändert auch der kühle Waldweg wenig. Die vielen Wurzeln kann ich nicht mal als Grund angeben für mein Tempo, wie peinlich. Irgendwann naht das Restaurant, wo ich mich eine Viertelstunde niedersetze. Dabei schütte ich nonstop 1,5l Wasser rein, läck tuet das guet. Nun wartet der letzte Downhill auf mich, denn ich eher gemütlich unter die Füsse nehme. Auch dieser Abschnitt kommt mir vor, als hätte ihn jemand extra für mich verlängert.

Suggiture mit Blick zum Harder

EJM für einmal Nebendarsteller

was für ein Trail

cha chum besser si
Nach 6h55 erreiche ich sichtlich erschöpft Interlaken. Hinter mir liegen rund 3'000 Höhemeter und ca. 3'400m Abstieg verteilt auf rund 37 Kilometer. Ein langer Tag geht zu Ende. Ich habe so viele Eindrücke gewonnen, ich kann kaum glauben, dass die alle von einem einzigen Tag stammen.
churzi Zämefassig
Fazit: Das Streckenprofil ähnelt mehr einer Ultralaufveranstaltung als einem sonntäglichen Ausflug. Ob man jetzt die Abschnitte Harder bis Interlaken sowie Brünig bis Brienzer Rothorn anhängen soll, das muss jeder für sich entscheiden. Es ist wahrlich ein harter Run gewesen, mit dem Wassermangel und den vielen Pausen habe ich mir die Sache unnötig schwer gemacht. Die zwei Snickers und zwei Linzertörtli mögen ungenügend erscheinen für eine solche Strecke. Ist es auch. Schliesslich sind es etwas überraschend die 3,2 Liter Wasser, die mir zu wenig waren, weshalb auch immer. Der Titel dieses Berichts ist insofern passend, als dass die Strecke doch eine gewisse Kondition erfordert. Dem gegenüber steht ein deutlich einfacherer Wegverlauf, als man den Zeilen im Netz Glauben schenken mag. Ich habe es wirklich weniger mit ausgesetzten Stellen, aber das heute ging bestens. Die Bezeichnung «Hardergrat» ist insofern ungenau, weil die begangenen Grate Tüfengrat, Riedergrat, Briefengrat, Brienzergrat und Hardergrat gemäss Hörensagen zusammen den Brienzergrat ergeben. Aber egal, gebraucht hat er mich allemal. Die Beschreitung in der Gegenrichtung wäre für mich durchaus denkbar. Insgesamt denke ich mit geschickterer Einteilung, besserer Verpflegung und Kenntnisse über den genauen Verlauf den gesamten Grat in einer Stunde schneller begehen zu können. Bei Nässe würde ich auf eine Begehung verzichten, zwar habe ich kaum einen Fuss auf Gras gesetzt, dennoch sind Matsch und nasse Steine an einigen Stelle ungünstig. Es war für mich übrigens ein Musskriterium, dass auch am Vortag meiner Begehung trockenes bzw. sonniges Wetter ohne Niederschlag herrschte. Das waren perfekte Bedingungen heute. Womöglich habe ich für diesen potenziell letzten Herbsttag die richtige Streckenwahl getroffen.
Souvenir eines geilen Trailruns :-)
Es ist eine wirklich phänomenale Strecke über diesen Brienzergrat. Der Beweis dafür zeigt sich an den vielen Fotos auf meinem Smartphone, meiner Zufriedenheit bei der Ankunft in Interlaken und auch die Tage danach erzählte ich noch Einigen von meinem Run. Und ja, ich habe sogar zwei Mal davon geträumt. Womöglich war der Wassermangel ein buchstäblich traumatisches Erlebnis ;-) Jetzt wo ich einen zeitlichen Anhaltspunkt erhalten habe, wäre eine Begehung mit dem Fokus auf die Zeit reizvoll. Das wird allerdings nicht so schnell passieren, denn mein Dialog mit dem Tannhorn enthielt eine Bettelei um dessen Güte, die ich nicht so schnell wieder in Anspruch nehmen werde. Anders als das Auf und Ab auf diesem Grat war dieses Erlebnis ein einziges Hoch. Ein must für jeden Trailrunner. Grandios.


PS: der folgende Bericht sowie den weiteren Verlinkungen darin lieferten die entsprechende Inspiration.