07.09.2019
Bei meinem dritten Anlauf will ich es besser machen als 2017 und 2018. 2017
verpasste ich die angestrebte Zielzeit von 5 Stunden um eine verfluchte Minute,
weil mich ab der Steigung Lauterbrunnen-Wengen erstmals überhaupt Krämpfe plagten.
Es waren aber nicht nur die Krämpfe, sondern es war generell ein Kampf, dieser
regnerische Jungfrau Marathon 2017, bei dem mehr drin gewesen wäre. Im
Folgejahr schaffte ich dann mit 4h55 mein eigentliches Ziel. Einerseits
zufrieden mit der Erreichung der Zielzeit unter 5h, machte ich
anderseits innert Jahresfrist doch Fortschritte, die sich mit einer Verbesserung vo 6min dennoch wenig
auszahlten. Ausgangs Wengen ging wenig und noch vor dem Schlussanstieg über die
Moräne verliessen mich die Beine. Fazit: er hat irgendetwas Giftiges, dieser
Lauf auf die Kleine Scheidegg, es ist wahrlich ein schwieriger.
So stehe ich also zum dritten Mal am Start in Interlaken.
Ich denke, eine Zielzeit von 4h30 könnte möglich sein. Gestern machte ich noch
ein paar Kalkulationen, die der Einteilung dienen sollen. Aber noch wichtiger
ist mir die Verpflegung, die ich hier irgendwie noch nicht hinbekam. Während am
Start die Schweizer Nationalhymne läuft, ordne ich mich direkt hinter dem
4h30-Pacemaker ein. Wegen den gestrigen Schneefällen auf der Kleinen Scheidegg
und wegen den kühleren Temperaturen zog ich mir ein langes Höschen über, oben
Kurzarm mit einem Rücksäckli – muess länge. Nach dem Startschuss folge ich zahm
wie ein Stubentiger dem Pacemaker. Es wird nicht nur kräftig applaudiert am
Strassenrand, sondern auch kräftig überholt. Viele Läufer schiessen am
Pacemaker vorbei. Ich habe dann auch das Gefühl, er nimmt es ziemlich locker,
so dass ich mal noch einen Kontrollblick auf seine Beachflag werfe, auf der die
Zielzeit aufgedruckt ist: 4h30 stimmt ;-). Im lockeren Schritt würge ich bis KM
5 etwas feste Nahrung runter, die soll für später dienen. Abgesehen von punktueller Musik
und Trychlern wird es bis Bönigen ruhiger am Strassenrand. Rang 216 bzw. 913 overall
bei Km 5.
Bis Wilderswil habe ich das Gefühl, am Strassenrand Jahr für
Jahr die gleichen Gesichter anzutreffen. Die Zeit, oder nein, die Distanz
vergeht ziemlich schnell, auch wenn ich immer noch dein Eindruck habe, der
Pacemaker läuft bis hierhin äusserst gemächlich. Aber er wird schon wissen, was
er tut. Die offensichtliche Ungeduld im Flachen bestraft auf dem weiteren
Wegverlauf noch so Manchen. Erst bei Kilometer 9 meine ich eine Temposteigerung
festzustellen. Rang 203 bzw. 800 bei Km 10 in Wilderswil. Dieses Jahr lerne ich
übrigens aus dem Fehler, nach dem Verpflegungsposten bei KM 10 in Wilderswil,
just vor der Brücke, noch Festnahrung für die nächsten Meter mitnehmen zu
wollen. Denn es folgt sogleich eine Steigung nach dem Posten, in der
der Anstrengung wegen essen nun unpraktisch wäre. Deswegen chätsche ich meinen
Geheimfood mit Wasser verdünnt zügig am Posten runter. In der Zwischensteigung
laufe ich mit erhöhtem Puls vor dem Pacemaker. Dennoch alles locker bis hierhin.
Die paar Meter bergab und später in den Kiesweg verliere ich etwas Zeit, zytewis schlömer änand gägesitig d'Surrbeinli a. Kopfschütteln pur. Okay, ich gebe es zu,
beim Geheimfood handelt es sich um Snickers.
Km 15, Rang 182 bzw. 694 overall. Auch in Zweilütschinen
nutze ich den Verpflegungsposten. Der Pacemaker macht es auch, er soll
schliesslich ein Vorbild sein für die Läufer. Hier verteilt sich die Meute
etwas besser. Ich nutze die nächsten 400 Meter, etwas Zeit herauszuholen, weil
ich mal Pipi muss. Die Hälfte der 20sec Rückstand hole ich zügig auf, für die
zweite Hälfte benötige ich mehr Zeit. Zuerst weniger schön unterhalb der
Starkstromleitung verläuft die Strecke zunehmend schöner entlang der Lütschine.
Ich mag diesen Abschnitt, er bringt Abwechslung zum dominierenden Asphaltteil. Eingangs Lauterbrunnen warten etliche Zuschauer auf die
Läufer. Festliche Stimmung herrscht, es liegt der Duft von Bratwurst in der
Luft, herrlich. Bis Km21 bin ich bestens auf Kurs, alles fühlt sich locker und
geschmeidig an. Die kontinuierliche Rangverbesserung auf 166 bzw. 586 overall entgeht meiner Aufmerksamkeit. Mit etwas Rückstand
auf den Pacemaker schütte ich beim Verpflegungsposten ohne Bedacht Bouillon
rein. Becherweise, versteht sich. So viel von dem Zeugs wie heute nahm ich in
den letzten 24 Monaten nicht zu mir. Den folgenden Abschnitt mag ich wenig,
zwar leitet die leicht bergab verlaufende Strasse zum Juflen ein, doch hatte
ich hier 2018 meine Mühe. Heute läuft das anders: ich laufe ein paar Meter vor
dem Pacemaker, der einfach nicht aufholen will. Mein Puls bewegt sich um die
140, alles locker. Das GPS setzt dann wieder mal aus, wie immer hier in
Lauterbrunnen, wo man bei schönen Tagen auf den Rücken liegen muss, um den
Himmel zu sehen.
Nach 25,6 Kilometer endet der flache Teil. Zwischenrang 157
bzw. 560 overall. Ein weiterer Verpflegungsposten und ein weiteres Bouillon
später wartet der Anstieg nach Wengen, «the Wall» genannt. Während einige
Läufer die Steigung joggend in Angriff nehmen, marschiere ich bereits. Die paar
Meter Vorsprung auf den Pacemaker stören mich, will ich doch ein falsches Tempo
vermeiden. Und sowieso, wenn er mich hier überholt, dann wäre die Sache geistig
gelaufen. Ein paar Rangverluste stören mich zwar wenig, aber ich habe den
Eindruck, bergauf mal wieder zu langsam zu sein. Wohl verstanden, ich wähle ein
Tempo, das noch weit vom Maximum entfernt ist. Die Angst vor Krämpfen wie 2017
lässt mich die Sache bedachter angehen. Es folgen ein paar hundert paranoide
Blicke zurück. Während ich gelegentlich überhole, schreitet der Pacemaker
konstant im gleichen Tempo wie ich voran. Okay, mein Tempo passt. Wer sich
unten zu fest verausgabte, ja der wird hier ohne Gnade vom Pacemaker überholt
und stehen gelassen. PS: Erst gestern zählte ich in einem Video die Anzahl Richtungswechsel
hinauf nach Wengen − das hilft mir heute tatsächlich, denn die Steigung kommt
mir beim Kurven zählen kurzweiliger vor denn je. «The Wall» habe ich also mühe- und
schadlos überstanden. Geilo. Vor und nach Wengenwald warten noch zwei
Verpflegungsposten, die ich wiederum beanspruche, obwohl nirgends ein Raclette
geboten wird. Schade. Der folgende Abschnitt bis Wengen ist zwar wieder
flacher, allerdings behütet mich die Furcht vor einem späteren Einbruch davor,
hier zu joggen. Also marschiere ich. Ein Fahnenschwinger zählt laut die Anzahl
Läufer, gemäss ihm nehme ich derzeit Gesamtrang 512 ein.
Si d'Biuder unscharf? eifach drufdrücke u separat uftue.
Si d'Biuder unscharf? eifach drufdrücke u separat uftue.
In Wengen sind 30Km absolviert. Ab hier beginnt sozusagen
ein neues Rennen. Zwischenrang 149 bzw. 510 overall. Ich fühle mich bestens.
Der Pacemaker rasselt etwa eine dreiviertel Minute nach mir durch die
Zeitmessung. Dem Wetter zum Trotz – kühl, ein paar Tröpfchen, kein Regen, kein Tornado –
herrscht hier beste Stimmung. So fägts. Die Schlaufe durchs Dorf kommt mir
kürzer vor als in den Vorjahren. Hinauf zur Allmend erwartet mich die mühsame
Steigung. Mühsam, weil es sich hier mit frischen Beinen leicht joggt, mit 30Km
und 700Hm in den Beinen ist das eine andere Sache. Also wechsle ich ab mit
Marschiere und Joggen. Über den Kiesweg hinauf zur Allmi bemerke ich, dass ich
nun Plätze gutmache. Der eine oder andere leidet an Krampferscheinungen, ich
möchte nicht tauschen. Schnell weg, wehe, wenn Krämpfe ansteckend sind! Hier
über die Talabfahrt (hinauf) läuft es sich eigentlich ring, gelegentliche
Zwischenanstiege nehme ich marschierend. Langsam wird’s frisch – oder aber ich
bin zu langsam unterwegs?! Ich werfe einen ersten Energygel rein. Es läuft. So
also fühlt es sich an, wenn man ohne Leiden unterwegs ist am Jungfrau Marathon.
Fägt tatsächlech meh. Ich will ja nicht von «Videostudium» sprechen, aber es
half schon, mir die Strecke nochmals angeschaut zu haben. Warum? Ja, weil man
dazu neigt, nach dem steilen Anstieg Lauterbrunnen-Wengen den weiteren
Streckenverlauf bis Wixi zu vernachlässigen. Dann überrascht es nicht, dass die
leichte Steigung, kurze Zwischenanstiege und halt die etlichen Kilometer in den
Beinen aufs Gemüt drücken. Bis zur Zeitmessung Wixi, es sind deren 38 Kilometer
bis dahin, jogge ich also. Nach wie vor nicht am Limit, zu gross die Furcht vor
leeren Beinen in der Moräne. Ich kann die Lockerheit kaum glauben. Zwei weitläufige
Kurven hinauf sehe ich keine anderen Läufer mehr joggen. Das ist motivierend.
Bei einem Blick zurück suche ich den Pacemaker vergebens.
Wixi, Zwischenrang 116 bzw. 387. Bis hierhin schaffte ich
es, die Abschnittszeiten der Vorjahre zu vergessen. Nun weiss ich aber um
meinen Vorsprung zum Vorjahr. S’chunnt guet. Den Pulli muss ich nicht
überstreifen. Vorbei an der Zeitmessung jogge ich die paar Meter bergab zum
Sessellift, werfe einen weiteren Gel rein und freue ich auf den letzten
Abschnitt. Hier hängt der Nebel tief über die Moräne. Mein Asphaltschüeli ist
für die nassen Steine weniger geeignet, wie ich merke. Im ersten Teil des
Anstiegs habe ich den Eindruck, vor mir wird getrödelt. Zwar sind merklich
weniger Läufer unmittelbar vor und hinter mir als wenn man um die 5 Stunden ins
Ziel läuft, trotzdem geht es mir zu langsam. Ich überhole. Erst aus dem Wald
hinaus ziehen ein paar vor mir davon, die hinter mir holen wieder auf. Der
zweite Teil des Schlussanstiegs, hier auf der Skipiste «Blackrock», nimmt die
Steigung zu. Ich ordne mich ein, kann nochmals überholen. Die Waden fühlen sich
noch gut an, nur nicht übertreiben sage ich mir. Wenn man nicht bei jedem
Schritt leidet, ja dann macht dieser Abschnitt durchaus Spass. So blicke ich
nochmals zurück, wiederum ohne den 4h30-Pacermaker zu entdecken. Erst im
letzten Abschnitt über die eigentliche Gletschermoräne, wo übrigens trotz den
Schneefällen von gestern kein Schnee mehr liegt (die Piste ist auch noch nicht
präpariert, was tun die eigentlich den ganzen Sommer lang?!), wird mir klar,
ich habe sogar noch Reserven in den Beinen. Ein, zwei Läufer überhole ich, dann
begrüsst der Klang des Dudelsacks die Läufer am höchsten Punkt der Strecke. Ein
toller Moment. Die paar Meter bergab überstehen mini Wadli abermals
schadlos. Noch ein paar letzte Meter hinauf, dann jogge ich hinunter zum
Zielraum. Mit jedem Meter warten ein paar Zuschauer mehr auf ihre Liebsten.
Dann, nach 04:22:08 finishe ich meinen dritten Jungfrau Marathon. Kategorienrang
106, overall 340 von 3'716 Teilnehmern.
Endlich, ja endlich lief es mir gut auf diesen 1'829
Höhenmetern von Interlaken auf die Kleine Scheidegg. Dass ich nach Wengen noch
aufdrehen konnte, überraschte mich. Überhaupt war es nicht mein Ziel und auch
nicht Teil meiner Kalkulation unter 4h30 zu bleiben. Die paar Minuten, die
sicherlich noch drin gewesen wären, denen schenke ich jetzt wenig Beachtung. 33
Minuten nahm ich Vergangenheits-Päscu ab. Das freut mich sehr. Ebenso gefällt
mir die Rangentwicklung. So gut fühlte ich mich noch nie nach einem Marathon. Bereits auf halber Strecke nach Wengen überholten mich
nur noch wenige Läufer. Heute passte die Einteilung bestens, sicherlich dank
der 1,5 Liter Bouillon vor- und während dem Lauf ;-) Dass der Ultraks erst 14Tage her ist, davon merkte ich erfreulicherweise nichts. Auch wenn mein
Saisonhighlight schon vor zwei Wochen stattfand, so freue ich mich wirklich
über diese Zeit und wie gut es mir heute erging. Locker ist vielleicht nicht
das zutreffendste Wort, aber ich hatte mich auf einen schwierigeren Lauf
eingestellt. Deswegen verabschiede ich mich nicht nur mit einer geilen Schoggitafele, einem grünen Finishershirt und einer Medaille von der Kleinen Scheidegg, sondern auch mit
versöhnlichen Gefühlen. Vor zweieinhalb Jahren meldete ich mich erstmals für
einen Marathon an, der Jungfrau Marathon sollte es sein. Unterdessen habe ich
13 Marathonläufe hinter mir, und der heute gehört zu den besten.
Hier ein Link für den vollständigen Finisherclip:
https://video.alphafoto.com/member/videoalpha/6ng7XvnQ?culture=de
Hier ein Link für den vollständigen Finisherclip:
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